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Neverland - Stephan Hauswirth

Georg-Scholz-Haus, Kunstforum Waldkirch

 

Autor: Michael Babics

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50 kleine Landschaften
Ausstellungs-Teilansicht der Arbeit "50 kleine Landschaften"

 

Sind Siezufrieden? Wünschen Sie sich im Moment nicht hier, sondern an einem anderen Ort zu sein? Schweifen Sie manchmal weg von der Realität? Es gibt immer wieder Phasen, wo wir uns gerade das herbeiwünschen, was wir zurzeit nicht haben. Es ist die Sehnsucht nach einer Welt, in der wir uns gerade nicht befinden. Jeder kann sich sicher an die kindliche Fantasie erinnern, in welcher die entferntesten Traumwelten erschaffen wurden und die Vorstellungskraftausreichte, um sich mühelos in ihnen zu bewegen. Aber auch im Erwachsenenalter kann es Momente geben, wo wir liebend gerne in unseren Gedanken an einen anderen Ortreisen. Ein imaginärer Ort, wo all unsere Wünsche erfüllt werden. Es kann die ersehnte Flucht von der Realität in eine von uns geschaffene Traumwelt sein. In Stephan Hauswirths Ausstellung „Neverland“ im Georg-Scholz-Haus in Waldkirch können wir als Besucher unterschiedliche Reisen in von ihm geschaffene Sehnsuchtslandschaften unternehmen. Dabei hat er sich zweikontrastierenden Themenblöcken gewidmet: Dem Sehnsuchtsort Stadt und dem Sehnsuchtsort Berg. Beide Orte können je nach subjektiver Sichtweise Neverland sein. Ein Ort der Sehnsucht, wo Realität und Fiktion nicht mehr voneinander trennbar sind.

 


Urban Landscape

"Urban Landscape", 2013, Dispersion und Druck auf Papier, 2 Bilder je 14,5 cm x 26 cm, 5 Bilder je 19,5 cm x 19,5 cm, 5 Bilder je 25 cm x 21,5 cm

 

Sehnsucht Stadt

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich in Europa im Zuge des Wirtschaftswunders eine weit verbreitete Sehnsucht nach dem urbanen Wohnen in Wohnblöcken. Neuerrichtete Wohnungen im städtischen Umfeld, bevorzugt an einer nahen Verkehrsachse gelegen, genossen eine grosse Beliebtheit. Das urbane Leben wurde als neues Wohnideal zelebriert – grosszügige Wohnfläche, Lift, städtische Umgebung, Autobahn – viele wollten sich diesen Luxus erfüllen. Die damals neuen Wohnideen wurden mit grossem Enthusiasmus aufgenommen und vielfach abgebildet. Von diesem Fortschrittsoptimismus zeugen noch heute Postkarten aus West- wie auch aus Osteuropa, die das städtische Wohnen als Ideal zelebrieren. Fasziniert von diesen Aufnahmen entschloss sich Stephan Hauswirth diese als Ausgangslage für eine neue Werkserie zu nehmen. Dabei hat ihn vor allem der Wandel der Wahrnehmung interessiert. Selbst aufgewachsen in einem verkehrsreichen und dichtbevölkerten Quartier in der Stadt Basel konnte er den Wandel der Wertevorstellung in der eigenen Wohnumgebung beobachten. Damals entwickelte Sehnsüchte und geschmiedete Träume sind teilweise einer Ernüchterung gewichen. In Stephan Hauswirths urbanen Landschaften sind die Wohnbauten fast nicht mehr erkennbar. Durch die reduzierte Farbwahl und den über die Wohnbauten gelegten weissen Schleier erscheinen sie uns als vergangenes Idealbild. Dieses scheint jedoch immer mehr an Kontur zu verlieren und vor unseren Augen zu verblassen, so dass es mit unserem Blick nicht mehr wirklich erfasst werden kann. Vergangene Sehnsüchte scheinen zu verschwinden, um wieder Platz für neue Wünsche zu schaffen.

 


Neubausiedlung

"Neubausiedlung", 2006, Acryl auf Baumwolle, 120 cm x 200 cm

 

Neubausiedlung

 

Zu Beginn sind bloss graue Schleier auf hellem Grund erkennbar. Erst bei längerem Hinsehen setzen sich die grauen Fetzen langsam zu architektonischen Einheitenzusammen. Wie beim Bauen fügt unser Auge die einzelnen Teile zu einer Einheit, bis ein Haus durch unsere optische Wahrnehmung entsteht. Diese entstandenen Häusererscheinen jedoch flüchtig wie ein Traum, der beim Aufwachen aus unserem Gedächtnis entschwindet.

 


City

"City", 2006, Acryl auf Baumwolle, 140 cm x 245 cm

 

City

 

Wie bei einem Landeanflug sehen wir das Dächermeer einer Grossstadt. Fast grenzenlos erscheint die urbane Besiedelung. Strassenachsen ziehen sich als tiefe Täler durch die Häusermassen. Als Gesamtensemble erscheinen die addierten Häuser wie ein einzelnes grosses Bergmassiv. Ausgelöst wird dieser täuschende Effekt durch das bewusste Verschleiern der Oberfläche. Unsere Wahrnehmung changiert zwischen Natur und Stadt.

 



SEHNSUCHT BERG

 

Viele sind schon der Sehnsucht nach den Bergen gefolgt. Bergsteiger, die sich das Ziel setzten einen hohen Gipfel zu erklimmen, Städter, welche sich von der frischen Luft und der unberührten Natur verführen liessen, und Künstler, welche die monumentale Landschaftsszenerie als Bildvorlage wählten.

 

Auch Stephan Hauswirth kann dem Ruf der Berge nicht widerstehen. An vielen Wochenenden zieht es ihn zu den Gipfeln, wo er mit dem Mountainbike bergauf und bergab die Gegend erkundet. Und wenn die Bergwelt einmal unerreichbar ist, holt er sie zu sich in sein Atelier in Basel. Dort wachsen die Berggipfel in jedem Winkel in die Höhe – auf kleinen handlichen Bildern, auf grossformatigen Werken wie auch in dreidimensionaler Form als Bergplastiken.

 

Stephan Hauswirth bildet keine existierenden Landschaften ab, sondern entwickelt neue Bergwelten in seinem Kopf. Die Ausgangslage bilden dabei eigene Fotografien oder Zeichnungen von Bergen. Diese werden mit Hilfe von technischen Hilfsmitteln wie Computer und Kopierer weiter verändert, so dass gänzlich neue und nicht zuordenbare Landschaften entstehen. Diese imaginierte Bergwelt wird von ihm in aufwändigen Arbeitsprozessen in unterschiedlichen Medien materialisiert. Es entstehen neu generierte, fiktive Ansichten, die sich nicht mehr an der Realität, sondern an optischen Parametern orientieren. Beispielsweise hatte eine Bergkomposition seiner Meinung nach zuwenig Tiefenwirkung. Um diesen Zustand zu ändern, hat er einen zusätzlichen Felsen kreiert, diesen vergrössert und vor den schon bestehenden Berg gesetzt. Da die vorderen Felsbrocken grösser als die hinteren erscheinen, wird eine zusätzliche Illusion von Räumlichkeit erzielt.

 

Stephan Hauswirth nimmt sich die Freiheit, eine eigene Bergwelt zu kreieren. Er spricht dabei von einer „Deromantisierung“ der Bergwelt. Die Sehnsucht nach der Bergwelt ist immer auch eine Sehnsucht nach der vom Menschen unberührten Natur. Seine Berge jedoch sind, auch wenn sie unberührt und natürlich erscheinen, gänzlich künstlich. Sie sind von ihm erfunden und von ihm erschaffen.

 


Tafelberg

"Tafelberg", 2009, Papiermaché, Hasendraht, Styropor, Holz, Metall, Acryllack, 180 cm x

50 cm x 83 cm

Tafelberg

 

Wie ein Menu auf einem erhöhten Tisch angerichtet erscheint der Tafelberg. Auf schlanken langen weissen Beinen thront ein weisser Quader, auf welchem sich eine Berglandschaft auftürmt. Gerne würden wir auf die Berggipfel blicken, doch wenn man keine übermenschliche Körpergrösse besitzt, bleibt der Blick im Tal kleben. Wir fühlen uns wie ein Kind, dessen Blick an einer Tischkante endet und welchem es nicht vergönnt ist, das einladende Essen zu sehen. Die Berge erscheinen zu

hoch, zu unerreichbar – nur in unseren Gedanken können wir die Gipfel erklimmen.

 


Bergrutsch

"Bergrutsch", 2009, Papiermaché, Hasendraht, Styropor, Holz, Metall, Acryllack, 80 cm x

56,5 cm x 85 cm

Bergrutsch

 

Was ist hier geschehen? Auf einem weissen Tisch hat sich ein weisser Berg in die Höhe gearbeitet. Doch scheint das Streben Richtung Himmel ein Ende gefunden zu haben. Die filigranen Beine des Tisches können die immensen Felsmassen nicht mehr tragen und sind in sich zusammengesackt. Die tragende Fläche ist damit ins Wanken und der stolze Berg ins Rutschen geraten. Es droht der Bergsturz. Nicht jeder Berg lässt sich beliebiges Herumhantieren gefallen. Der Berg schlägt zurück...

 



Landschaft 10

"Landschaft 10", 2010, Sepiatusche und Acryllack auf Leinen, 225 cm x 340 cm

 

Bergsehnsucht

 

Wir sehen grossformatige Landschaftsbilder, die beim Betrachten materiell nicht fassbar scheinen. Sie wirken wie das Aufflackern einer Bergansicht, die im nächsten Moment wieder verschwindet. Es scheint wie an einem nebligen Tag beim Skifahren zu sein. Die weisse Farbe des Schnees verschmilzt mit der weisslichen Tönung des Himmels zu einer fast untrennbaren Einheit. Unser Auge verliert die Orientierung. Bloss noch einige dunkle Felsbrocken, die einen Kontrast zur hellen Atmosphäre bilden, sind erkennbar. Oder begegnen wir hier einem inneren Bild? Einem Bild, das unsere Sehnsucht nach den Bergen abbildet?

 


Ohne Titel

"Ohne Titel", 2014, Acrylfarbe auf Leinen, 100 cm x 150 cm

 

Berglos

 

Wir treten in einen Raum und werden gleich von einer Panoramaansicht umgeben. Es sind grossformatige Bilder, welche durch ihre Bildkomposition an holländische Landschaftsmalerei erinnern. Im Vordergrund breitet sich eine flache berglose Landschaft aus, die das untere Drittel des Bildes einnimmt. Die oberen zwei Drittel des Bildes sind von einem weiten Himmel geprägt. Beim zweiten Hinschauen erkennen wir, dass es sich nicht zwingend um Landschaftsmalerei handeln muss. Grundsätzlich sind wir nur mit zwei horizontalen Bändern konfrontiert, welche die Komposition prägen. Die Landschaft entsteht in unserem Kopf.

 


50 kleine Landschaften

"50 kleine Landschaften", 2011, Acryl und Lack auf MDF, je Bild 20,7 cm

 

Fiktive Berge

 

Beim Betreten des letzten Raumes dieser Ausstellung werden wir von einer grossen Fülle von kleinen Tafeln, die unterschiedliche Bergansichten zeigen, überwältigt. Durch die Multiplizierung der Bergansicht können wir unseren Blick nicht an einem Berg festzurren, sondern werden gezwungen, von einem Berg zum anderen zu springen. Auch mit dem Wissen ausgestattet, dass es sich um fiktive Berge handelt, meint man einzelne real existierende Berge wiederzuerkennen. Innere Bilder und Erinnerungen vermischen sich mit dem Gesehenen.

 



Die Werke von Stephan Hauswirth wirken nicht offensiv und nach Aufmerksamkeit haschend. Es sind subtile, meist stille Arbeiten, die unsere Zeit benötigen, um

erfasst zu werden. Farblich sind sie höchst zurückhaltend weitgehend in Weiss- und Grautönen gehalten. Beim ersten Blick ist manchmal fast nichts erkennbar. Erst wenn wir uns genügend Zeit nehmen und länger auf die Werke blicken, können wir mehr entdecken. Die Bilder entfalten sich vor unserem Auge wie ein Traum, ein sehnsüchtiger Traum.

 

Text: Michael Babics

Bild: Stephan Hauswirth